Architektur ist Psychologie

Im September 2006 besuchte Prof. Dr. Günter, Vorsitzender des Deutschen Werkbundes NRW, die Gartensiedlung Viersen. Beim Rundgang mit dem Architekten Martin Breidenbach kam er auch mit Bewohnern der Siedlung ins Gespräch.

Der folgende Artikel von Prof. Dr. Günter erschien am 18. Oktober 2006 im NRZ Feuilleton, GÜNTER GUCKT HIN


Architektur ist Psychologie

Ein Rollstuhlfahrer läßt sich ein Haus bauen - mit nur 81 Quadratmetern.
Ein auskragendes Dach, ein überdachter Hof, ein großer Raum - wie der eines Hallen-Hauses, das es in dieser Gegend seit über zwei Jahrtausenden gab, jetzt umgewandelt auf seine Bedürfnisse. Es kostet nicht mehr.

Der Architekt Martin Breidenbach ist dabei, in Viersen-Süchteln ein kleines Stadtviertel von einer Qualität zu errichten, das den Rang einer Werkbund-Siedlung am Niederrhein verdient. Es ist im Rheinland einzigartig - eine Entdeckung.

Eine findige Planung erzeugt Mehr-Werte. Auch Brauchbarkeit in der Zeit-Perspektive - für Generationen. Weil die Holz-Konstruktionen an nur einem Ständer hängen, lassen sich die Wände nach neuen Bedürfnissen verändern. Das Kernthema: Individualisierung. Die Handschrift des Architekten signalisiert Zusammengehörigkeit. Für dieses Konzept hat Martin Breidenbach eine Bauträgergesellschaft gegründet, Land gekauft, einen Bebauungsplan angefertigt, das Land erschlossen und Vorleistungen finanziert. Nun entsteht Haus um Haus. Mit hoher Qualität.

Was treibt einen Architekten um, ein so großes Risiko auf sich zu nehmen?
Mit ungeheuren Belastungen für Büro und Familie, den Plan durch die Gremien zu dirigieren, mehrfach am Rand des Scheiterns. "Es ist kein finanzielles Ziel," sagt Breidenbach, "mich bewegt das ständige Erlebnis, bei den Menschen vielerlei Glücks-Momente zu beobachten, die durch Architektur entstehen können."
Ich sehe, wie freudig alle Bewohner den Architekten empfangen und hoch achten.
Immer gibt es vor, während des Bauens lange Gespräche. Tatsächlich ist diese Siedlung ein Beispiel für eine seltene Balance: zwischen Bewohner -Vorstellungen und Architekten-Vorstellungen. Der Architekt als guter Psychologe.

Hinzu kommt eine weitere Balance: Ordnung, Klarheit, Übersichtlichkeit - und gleichzeitig erscheint einiges, das rätseln läßt und damit aktiviert und nachdenklich macht.
Der Architekt überlegt wie ein Regisseur Situationen, wie Menschen sich in einem Raum aufhalten: Dafür entwirft er die Bühnen, auch mit Fenstern, die er situativ gruppiert.
Mit großzügiger Geste. Offen und weitläufig: mehr als Nutzraum - wohltuender Atem-Raum.

Kontraste, durch unterschiedliche Materialien: Holz gegen Ziegel und Putz.
Im Wohnungsbau gibt es eine typologische Tradition: eine Einfüll-Architektur.
Und eine total andere, die um 1900 von England herüberkam. Herman Muthesius formulierte sie in seinem Buch über das englische Landhaus. Sie entwirft, was die Psyche des Einzelnen in Zusammenhang mit anderen sich für sein Leben wünscht: die Bühne, die er als Schauspieler braucht, um angeregt spielen zu können.

Dr. Roland Günter ist Architekturprofessor, Vorsitzender des Deutschen Werkbundes und Autor von Standardwerken zur Industriekultur wie "Besichtigung unseres Zeitalters. Industriekultur in Nordrhein-Westfalen".


Informationen über den Werkbund hier unter www.deutscher-werkbund.de
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